Freitag, 29. Mai 2009

Sozialschmarotzer Teil 1: Die Version der Herrschenden

Was ist ein Sozialschmarotzer? Nun, „Langenscheidts Fremdwörterbuch“ schweigt sich dazu aus.
Zwei philosophische Wörterbücher und „Wilhelm Liebknechts Volks-Fremdwörterbuch“ helfen auch nicht weiter. Dafür aber die Leute vom „Stern“1. Also existiert der Begriff und wird versucht, durch ausreichend häufige Wiederholung in den kapitalistischen Medien in das Bewußtsein ihrer Konsumenten zu hämmern. Gerade in letzter Zeit, oft mit Bezugnahme auf eine Brandschrift des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit „Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, 'Abzocke' und Selbstbedienung im Sozialstaat“ vom August 2005.

Liest man aber diesen Bericht, kommt der Begriff „Sozialschmarotzer“ darin gar nicht vor! Nur eine ähnliche Formulierung: „Das können wir uns aber nur leisten, wenn wir die Schmarotzer und Trittbrettfahrer aus dem System ausschalten" sagt auf Seite 24 der Mannheimer Sozialamtsleiter Hermann Genz nicht nur, sondern er sagt es „zu Recht“2. Soso, „ausschalten“ will der freundliche Herr die „Schmarotzer“ also.

Schon vorher3 wird eine synonyme Formulierung - „Parasiten“ - angeblich nicht, aber gerade verwendet: „Biologen verwenden für 'Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihren Wirten - leben', übereinstimmend die Bezeichnung 'Parasiten'. Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen. Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert.“ Soso, Begriffe aus der Biologie sind also nicht übertragbar (was ich anzweifle, da der Mensch ebenso biologisches Wesen ist). Aber warum das so sein soll, offenbart die Denkweise der Autoren des Berichts: Weil die Sozialbetrüger SCHLIMMER sind als jeder Schmarotzer, ääh, Parasit aus dem Tierreich.

Was enthält dieser Bericht weiterhin? Zunächst ein Vorwort vom damaligen Bundesminister Wolfgang Clement. Einleitend beteuert er: „Bei der umfassenden Reform des Arbeitsmarktes kommen wir mit großen Schritten voran.“ Nun, vielleicht hat er nur vergessen, zu erwähnen, in welcher Richtung. Eine weitere Aussage ist unzweifelhaft: „... die Betreuung und Vermittlung von Arbeitslosen wird stetig intensiver“.

Wer davon betroffen ist, weiß, daß das stimmt. Nur der Begriff „intensiver“ sollte treffender durch „aggressiver und repressiver“ ersetzt werden. Auf die faustdicke Lüge: „Die Arbeitsmarktreform ist alles andere als 'sozialer Kahlschlag' oder 'Armut per Gesetz'.“ werde ich später zurückkommen.

Der übrige Bericht enthält eine Auflistung von Einzelfällen des „Mißbrauchs“ von Sozialleistungen seitens Empfängern, aber auch Firmen, welche die gesetzlich verordnete Zwangsarbeit und die „Vermittlungsgutscheine“ der Arbeitsagenturen im Wert von bis zu 2000€ egoistisch und – oh Entsetzen – ohne die Absicht der wirklichen Schaffung von Arbeitsplätzen ausnutzen. Dann wird noch ein wenig gegen Jene gehetzt, welche den ALG-II-Opfern juristische Hilfe anbieten, z.B. in Form von Musterwidersprüchen seitens der PDS. Die Autoren des Berichts entblöden sich nicht, hier den Boden juristischer Argumente zu verlassen: „Der oben beschriebene 'Musterwiderspruch' ist also nicht rechtlich, wohl aber politisch zu beanstanden.“ Dann folgen noch Abschnitte, warum die verschärften Kontrollmaßnahmen „gerecht“ und wirksam sind. Hoppla, hier ist also plötzlich nicht mehr von „Recht“ (also bürgerlichem Klassenrecht) sondern sogar „Gerechtigkeit“ die Rede. Allerdings wird im Text dann wieder von „Recht“ geschrieben. Hier haben scheinbar die „Experten“ des Bundesministeriums noch etwas Nachholebedarf in Sachen Bedeutung von Begriffen. Zum Schluß folgt noch die Ankündigung, die Kontrollen würden strenger und auch der Hinweis auf „Harte Strafen für Abzocker“ darf nicht fehlen.

Entsprechend, wie es sich für eine Brandschrift gehört, fällt die Wortwahl aus, einmal in Form der Charakterisierung der „Sozialschmarotzer“: „Missbrauch ... Abzocke ... Selbstbedienung ... beispiellose[r] Dreistigkeit und Ignoranz ... geahndet und geächtet ... Sozialbetrug ... Mitnahme-Mentalität ... Melkkuh Sozialstaat ... Sozialmissbrauch ... fadenscheinige Angabe oder Ausrede ...“. Und selbstverständlich fehlte auch die Einschüchterung nicht: “Strafanzeige ... unnachgiebige Konsequenz ... ohne falsche Rücksichten ... Nun ermittelt die Justiz ... Post vom Staatsanwalt ... setzt ihn auf die Liste der gesuchten Betrüger ...“

Irgendwann hörte ich mit der Sammlung auf, weil mir übel wurde. Woher kam gleich der Bericht? Aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit oder aus dem Bundespropagandaministerium?

1 nachlesbar z.B. auf der Internetseite http://stern.de/wirtschaft/arbeit-karriere/:Sozialschmarotzer-Haftstrafen- Schwarzarbeiter/547356.html
2 „Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, 'Abzocke' und Selbstbedienung im Sozialstaat“
3 auf Seite 10 dieses Berichts