Freitag, 29. Mai 2009

Torsten, der Bourgeoisschreck

Am 07.06.2005 fuhr ich spät abends mit der S-Bahn der Linie S1 nach Hause. Am Hauptbahnhof stiegen mehrere Personen zu, die offensichtlich am Dialekt erkennbar westdeutscher Herkunft waren.

Eines ihrer Gesprächsthemen war, daß sie sich wunderten, daß die Semperoper so voll war, trotz der hohen Preise. Glücklicherweise hatte ich einen A4-Abzug des Flugblatts “Wir hatten Sozialismus - wir haben Kapitalismus” dabei. Beim Aussteigen übergab ich Einem das Flugblatt. Er wollte es nicht annehmen. Also ließ ich es in seine Hände fallen - und er griff zu.

Ich sagte dazu: “Es gab eine Zeit, da war die Semperoper immer voll. Weil sich das Jeder leisten konnte. Machen Sie sich hier ruhig breit. Aber denken Sie daran: Wir schlafen nicht.”

In den wenigen Sekunden vor dem Aussteigen schnappte ich ein paar Gesprächsfetzen auf:

A: “Ist das Gysi?”
B: “Das ist nicht Gysi.”
C: “Woher kommt das? Kommt das von der PDS?”
B: “Nein, das kommt bestimmt nicht von der PDS!”
A: “Wirf das in den Papierkorb!”
C: “Nein! Zerreiß das lieber!”
A: “Das kommt doch nicht von Gysi!?”

Unbewußt sagten sie viel Wahres: Sie schätzen Gysi und die PDS richtig ein. So etwas kommt nicht von Gysi und der PDS – genausowenig wie von Lafontaine und der WASG. Gysi und die PDS rütteln nicht am kapitalistischen System und ihrer egoistischen Lebensweise.

Aber durch das Flugblatt fühlten sie sich gestört und bedroht. Wegwerfen erschien ihnen nicht ausreichend – nein, zumindest zerrissen mußte das werden. Sie erkannten die Bedrohung, die für sie von Leuten ausgeht, welche die Vorzüge des Sozialismus kennen und es mit seiner Errichtung ernst meinen.

Ich werde nie erfahren, ob das Flugblatt im Papierkorb landete oder zerrissen wurde.

Ganz bestimmt kam es aber an. Dieses gutgekleidete Pack - Bourgeois, Stehkragenproletariat oder denkfaules kapitalismusbejahendes Proletariat - wurde in seiner scheinbaren Ruhe gestört.
Sie werden lernen: Die Gesellschaft ist dynamisch. Ihr geliebter Kapitalismus, in dem sie gern in der Semperoper unter sich wären, ist nicht stabil. Das ist durch Zerreißen eines Flugblatts nicht zu ändern.

Innerlich wünschte ich ihnen eine unruhige Nacht. Mögen sie noch oft an ihren Abend in der Semperoper und ihre Heimfahrt denken. Aber das genügt nicht. Erst wenn dieses Pack hier IMMER und überall an die trügerische Sicherheit seines Lebens erinnert wird, sind wir auf dem richtigen Weg. Dem Weg, zum „Roten Sachsen“, welches es in den 20er Jahren und bis zur faschistischen Diktatur war.